Sonntag, 5. Dezember 2010

Wintergedanken

 Es gibt Tage, an denen uns Naturgewalten dazu zwingen, mehr über das Grundsätzliche nachzudenken. So blieb mir in den letzten Tagen mit Unmengen Schnee zu Hause gar nichts anderes übrig, als mich zu fragen, warum ich eigentlich gerade jetzt im produktivsten Alter in der Lebensmitte entschleunigen möchte, aussteigen, wo andere gerade richtig Gas geben im Geschäftsleben, um sich so zu verwirklichen.
Zugegeben, es passiert selten "von allein", meist hilft das Schicksal etwas nach. Im alten Berufsleben konnte ich nicht mehr weiter machen. Gesundheitliche Einschnitte zwangen mich zu Entscheidungen. Aber den Schritt, "es zu tun", ins Ungewisse, in eine neue Welt aufzubrechen, konnte mir niemand abnehmen, jeder muss ihn allein wagen, mit der Angst vor Ent-Täuschungen fertig werden und mit der Frage: Warum mach ICH das eigentlich, was erwarte ich von diesem Neuanfang.

Manche erfüllen sich im Rentenalter, finanziell gut versorgt, noch mal einen Lebenstraum, bevor es "das alles gewesen sein soll". Dafür sind wir noch zu jung. Unsere 3 Kinder sind zwar fast "flügge", die schöne Zeit des "Brutgeschäftes" haben wir gut bewältigt, haben 23 Jahre harte Berufstätigkeit mit ein paar Schrammen hinter uns, wenn also jetzt nicht, wann dann.... sie brauchen uns aber noch, für ihre Ausbildung. Und wir haben auch die Verantwortung, an die Zeit nach unserem Ausstieg zu denken, vielleicht an eine Rückkehr, an die Altersvorsorge. Es gibt tausend Gründe für Vernunft, ES nicht zu tun. Warum aufs Meer, warum nicht was Ungefährlicheres, gemäß der Weisheit unserer Vorfahren: manchmal sollte man sich mehr mit dem zufrieden geben, was man erlebt hat, als mit dem, was man erleben könnte. Und das erst recht, wenn doch das Schicksal einem nicht gerade 6 Richtige im Lotto geschenkt, sondern erst mal den Arbeitsplatz genommen hat.
Ich kann es nicht beschreiben, was es für eine Faszination ist. Es ist nicht die pure Abenteuerlust, die hinaus treibt, dafür habe ich zu viele Abenteuer erlebt. Es ist etwas archaisches, ein Sich-Hingezogen-Fühlen zum Meer,
"denn ursprünglich entstammen wir alle dem Meer - und es ist eine Tatsache, dass der Salzgehalt des Blutes, welches durch unsere Adern fliesst, exakt dem des Meeres entspricht. Dieses Salz in unserem Blut, in unserem Schweiss, in unseren Tränen - so sind wir seit jeher dem Meer verbunden, und wenn wir zu ihm zurückkehren, sei es, um es mit unseren Schiffen zu befahren, oder uns einfach nur von seiner unendlichen Weite faszinieren zu lassen, so kehren wir zu unserem Ursprung zurück." (John Fizgerald Kennedy)
Das Meer hat mich in meiner Kindheit- und Jugendzeit schon fasziniert, meine Eltern haben das schon in mich gepflanzt. Und kaum waren unsere eigenen Kinder auf der Welt, wollten wir die Begeisterung auch ihnen mit-teilen.
Das war unser erster Traum vom Segeln. Auf den holländischen Meeren und Binnenmeeren. Ein Warship 720, komplett aus Holz.
Die Liebe zum Wasser haben die Kinder intensiv erlebt mit uns, und sie nehmen das mit in ihr Leben. Unsere mittlere Tochter reist und arbeitet gerade ein halbes Jahr in Neuseeland am Meer - steht auf ihren eigenen Beinen wie hier zu lesen ist.
Jetzt kommt die Zeit der Vorbereitung auf unsere Zukunft zu Zweit.  Wir lassen uns allerdings noch bedrücken von den täglichen Nachrichten über Wirtschaftkrisen, Korruption etc. etc. Ich bemerke, dass unsere Freunde, Kunden, Gäste immer hektischer werden. Es ist für nichts mehr Zeit, schon gar nicht, sich auf Mitmenschen einzustellen, einfach mal zuzuhören. Auch das ist ein Grund, warum mich die Atlantiküberquerung fasziniert, Wochen mit uns allein, schauen, was drinnen übrig bleibt von der Außenwelt, dem Anspruchsdenken, dem gewohnten Komfort. Das Segeln führt zum Ursprung zurück, zu einem Tempo vom Wind allein bestimmt, so langsam, dass man endlich mal Zeit hat, auch über die Vergangenheit nachzudenken. Ich versuche diese Ruhe schon jetzt vor der Reise in Form von Gelassenheit im Alltag zu leben, im Gedränge auf den Straßen, den Supermärkten. Dabei höre ich öfter, ja ich hätte ja jetzt auch Zeit dafür, wo ich nicht mehr regelmäßig zur Arbeit gehe. Es ist humorvoll gemeint, und doch merke ich, wie viele eigentlich ruhiger treten möchten, nicht so, dass man ihnen im Gehen die Schuhe besohlen kann, aber einfach bewusster, intensiver. Nur wenige schaffen es, sich auch Zeit zu nehmen, einen Traum zu realisieren, statt ihn als Alibi vor sich her schieben: wenn ich erst mal pensioniert bin, wenn erst mal der neue Chef da ist,  wenn das Haus, das Auto abbezahlt ist, dann,  ja dann lebe ich, dann gönn ich mir auch mal Freiheit. Aber zum Glück dauert das ja noch..... sonst müsste man ja morgen schon damit beginnen.  Ich bin selber auch irgendwie froh, dass ich noch nicht im kommenden Frühjahr die Leinen loswerfen muss. Oft habe ich zwar diese ungeheure Unruhe, es gern bald zu tun, aber ich habe noch Aufgaben abzuschließen, und Vorbereitungen zu treffen. Wenn man so lange an den Träumen bastelt, werden sie manchmal schon merkwürdig real, ja fast normal. Das ist ja auch gut, denn die Gewohnheit gibt Sicherheit, hilft Angst zu überwinden. Ich nehme mir die Zeit, noch darüber nachzudenken, ob ich die Freiheit wirklich auf unserem hochtechnisierten Schiff finden werde, oder ob ich sie eigentlich mit Kajak und Zelt viel ursprünglicher und einfacher finden könnte. Tagelang denkt man über Energiebilanzen nach, Solar, Windenergie, Beleuchtung, Funk, email an Bord, Kühlschrank, Wassermacher usw. Und das, um am Ende an den schönsten Orten der Welt diese Dinge dauernd reparieren zu müssen. Bin ich dem gewachsen? Habe ich Lust, mich wieder darin zu verlieren, wie welche Probleme gelöst werden müssen, Hauptsache, es sind nicht meine persönlichen, eigenen. Wir sind doch alle wahre Verdrängungskünstler.  Also, es sind noch Fragen offen. Wie gut, dass es die nächsten Tage noch bitterkalt bleiben soll und heute Nacht noch mal 20 cm schneien. Dann komme ich noch weiter zum Nachdenken. Und Ihr vielleicht auch. Schreibt einfach dazu. Es ist ja manchmal wohltuend, dass in einem gewissen Alter wir alle an den gleichen Dingen herumkrebsen: vorwärts, rückwärts, seitwärts. Wir wollen frei sein, frei leben, Normen und Vorgaben selber bestimmen zwischen Geburt und Tod, an denen wir nichts ändern können. Zwischen diesen beiden Ereignissen gibt es nur das eine Leben, das wir so oder so leben können, fühlen oder nicht fühlen, hart oder sensibel, agressiv oder entspannt, lieblos cool, oder liebevoll verletzbar...
Welcher Ort könnte schöner sein, all dies zusammen mit dem liebsten Menschen gemeinsam zu spüren, sich der Dimensionen des Lebens bewusst zu werden, als auf einem Boot mitten auf dem Atlantik, wissend, dass es nicht nur Tage, sondern Wochen dauern wird, neues Land zu erreichen, unter sich tausende Meter Wasser, in dessen Tiefe die größten Lebewesen unseres Planeten leben.